Ein Interview mit Prof. Dr. Markus Vogt und Rolf Husmann
Professor Markus Vogt, Vorsitzender des Beirates von Ordo Socialis, hat an der Universität Uzhgorod ein Projekt zur wissenschaftlichen Reflexion und zur gesellschaftlichen Förderung der Toleranz initiiert. Kooperationspartner ist neben anderen Dr. Alexander Bokotey, Direktor des dortigen Instituts für Ökologie und Religion und ebenfalls Mitglied unseres Beirates.Vor dem Hintergrund des aktuellen Konflikts mit Russland ist das ein hochspannendes Unternehmen. Wir haben darüber ein Gespräch mit Prof. Vogt und seinem Mitarbeiter Rolf Husmann geführt. Die Fragen stellte Arnd Küppers.
Lieber Markus, Du hast ein Projekt „Toleranz an den Grenzen Europas“ initiiert, das In Kooperation mit der Universität Uzhgorod und dem dort angesiedelten Institut für Ökologie und Religion durchgeführt wird und dessen erste Sequenz gerade erfolgreich beendet wurde. Wie ist diese Zusammenarbeit zustande gekommen, und was ist das Ziel des Projektes?
Vogt: Bereits im Jahr 2000 lernte ich im Rahmen meiner Tätigkeit für den Rat der Europäischen Bischofskonferenzen Akteure aus der Ukraine kennen, die sich in besondere Weise für soziale und ökologischen Verantwortung engagieren wollten. Die spezifischen Chancen und Schwierigkeiten der postsowjetischen Länder auf ihrem Weg in eine freiheitliche und plurale Gesellschaft und die Rolle der Kirchen dabei haben mich schon vom Studium her interessiert. Nach verschiedenen ökologisch ausgerichteten Projekten und der Mitgründung des Instituts für Ökologie und Religion an der Nationalen Universität Uschghorod (Westurkraine) hat mich überraschend ein Vertreter des Auswärtigen Amts der Bundesregierung angerufen. Er kannte meine Arbeit dort und fragte an, ob ich nicht zusammen mit den Ukrainischen Partnern ein Projekt zu ziviler Konfliktbewältigung wissenschaftlich begleiten wolle. Er war überzeugt, dass den Kirchen und der Christlichen Sozialethik hier eine zentrale Aufgabe zukomme. Das hat mich gereizt.
Im Rahmen dieses Projektes haben Du und Dein Mitarbeiter Rolf Husmann das Konzept proaktiver Toleranz entwickelt. Was ist das Besondere und Innovative an diesem Toleranzbegriff und dem darauf fußenden sozialethischen Ansatz?
Husmann: Mit dem Begriff der proaktiven Toleranz wollen wir eine neue Dimension der Toleranz aufdecken. Vielfach wird unter Toleranz nämlich lediglich die Duldung anderer Verhaltensweisen, Meinungen und Eigenschaften verstanden. Das greift zu kurz. Auch wenn die Uno von einer aktiven Toleranz spricht, schöpft das noch nicht den Begriff ganz aus. Das aktive Eintreten für die Toleranz durch zivilgesellschaftliches Engagement für Meinungsfreiheit, faire Regeln des Zusammenlebens usw. ist eine wichtige Seite der Toleranz. Wir meinen aber, dass Toleranz proaktiv in einer Gesellschaft wirken kann, wenn sie als Haltung der Wertschätzung und des Vertrauens einen Perspektivwechsel ermöglicht. Das Anderssein wird dann nicht mehr als Bedrohung und nicht rein defizitär betrachtet, sondern als Bereicherung, die Neugier und Lernbereitschaft, Interesse und gegenseitige Achtung befördern kann. Das ist, wenn man so möchte, das Innovative an unserem Ansatz.
Die Ukraine ist ein Land, dessen territoriale Integrität seit 2014 von Russland massiv bedroht wird. Wir haben die völkerrechtswidrige Annexion der Krim erlebt, und immer noch sterben täglich Menschen in dem von Russland in der Ostukraine befeuerten irregulären Krieg sogenannter Separatisten. Ist es nicht wohlfeil, wenn wir als deutsche Sozialethiker den Ukrainern in einer solchen Lage eine Haltung und Politik der Toleranz zu empfehlen?
Vogt: Ähnliche Besorgnisse haben wir auch am Anfang in der Ukraine wahrgenommen, als wir mit unserem Projekt begannen. Aber die Ängste sind unbegründet. Es wäre wohlfeil, wenn man den Konflikt banalisiert. Das machen wir keineswegs und das haben auch unsere Gesprächspartner erkannt. Im Gegenteil: Wir nehmen den Konflikt sehr ernst. Toleranz ist ein Konfliktbegriff, d.h. Toleranz wird dann relevant und sichtbar, wenn es einen realen Konflikt gibt, der zur Unterscheidung zwingt zwischen Situationen, in denen Toleranz eine Forderung der Gerechtigkeit ist, und Situationen, in denen sich eine Demokratie wehren und für ihre Werte eintreten muss. Indifferenz ist nun einmal keine Toleranz! Der Russland-Ukraine-Konflikt ist darum ein Ernstfall, der uns alle fordert, die Grenzen der Toleranz richtig zu bestimmen. Deshalb gilt: Die Aggressionen von Russland dürfen keinesfalls heruntergespielt werden und schon gar nicht toleriert werden. Aber es gibt auch ein „nach dem Konflikt“ und das sollte man nicht aus den Augen verlieren.
In den letzten Jahren haben, vor allem im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen über Migration und Multikulturalität, Intoleranz und Ressentiment in Deutschland spürbar zugenommen. Können wir Deutschen auch etwas von den Ukrainern lernen, was das Miteinander in religiöser und kultureller Vielfalt angeht?
Husmann: Eine ganze Menge. Die Ukraine ist ein Schmelztiegel der Kulturen und Religionen und das schon seit Jahrhunderten. Die Ukraine und vor allem Transkarpatien hat immer von einer Kultur der Toleranz profitiert, besonders deutlich wurde dies an dem kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung, was unter der kuk Monarchie zu einer Blütezeit führte. Auch noch heute ist die Ukraine ein Lernort für uns Westeuropäer in Sachen Toleranz. Toleranz, gesellschaftlicher Austausch verschiedener Gruppen und Religionen stehen in der Ukraine an der Tagesordnung und werden durch Gesprächsformate institutionalisiert. Da können wir uns noch einiges abgucken. Wir müssen nur offen sein, von der anderen Geschichte und Kultur Osteuropas Impulse zu empfangen. Von daher verstehen wir uns auch nicht als Exporteure eines westeuropäischen Gedankens, sondern als Lernbereite, die am Dialog zwischen Ost und West gerne teilnehmen.
In Ihrem Beitrag „Proaktive Toleranz als ein Weg zum Frieden“ haben Prof. Dr. Markus Vogt und Rolf Husmann in Kooperation mit den anderen Beteiligten das theoretische Rahmenkonzept des Projektes erläutert.