Interview mit Prof. Dr. Peter Schallenberg
Monsignore Dr. Peter Schallenberg ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach. Darüber hinaus ist er als außerordentlicher Konsultor bei dem Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in Rom tätig, das von Peter Kardinal Turkson geleitet wird.
Professor Schallenberg setzt sich in einem aktuellen Beitrag mit den ethischen Fragen der medizinischen Triage auseinander. Den Text können Sie hier abrufen.
In Ergänzung zu diesem Aufsatz hat sich Arnd Küppers mit dem Autor über die derzeitige Situation im Vatikan und über sozialethische Fragen im Zusammenhang mit der Pandemie unterhalten.
Arnd Küppers (AK): Lieber Peter, neben Deinen Tätigkeiten als Professor an der Theologischen Fakultät in Paderborn und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach bist Du auch als Konsultor des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in Rom tätig. Kannst Du dieser Aufgabe in Zeiten der Corona-Epidemie überhaupt nachkommen?
Peter Schallenberg (PS): Die Tätigkeiten der römischen bzw. vatikanischen Behörden, auch Dikasterien genannt, sind momentan stark reduziert , insofern nur die vor Ort ansässigen Mitarbeiter im Büro sind, und alle auswärtigen bzw. ausländischen Mitarbeiter nicht nach Rom gelangen können. Daher beschränkt sich momentan auch meine Aufgabe auf Telefonkonferenzen mit den römischen Mitarbeitern meines Dikasteriums, insbesondere mit Kardinal Peter Turkson, und auf die Erstellung von Texten und Stellungnahmen, wiederum vornehmlich für Kardinal Turkson, den Präfekten des Dikasteriums.
AK: Wie ist die Situation derzeit in Rom und im Vatikan? Viele der Bischöfe und Kardinäle in Rom, auch der Papst, gehören ja schon allein aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe in der Pandemie. Sind auch sie und ihre Mitarbeiter vor Ort derzeit alle im Homeoffice?
PS: Seit dem 10. März waren die vatikanischen Dikasterien sozusagen im Zustand des Notaggregates, außer das päpstliche Staatssekretariat, das immer in gleicher stetiger Weise arbeitet und arbeiten muß. Alle anderen Dikasterien hatten zum Teil auf Homeoffice umgestellt, sofern das möglich war, ohne die notwendige Geheimhaltung zu beeinträchtigen. Zum Teil, da es wie zum Beispiel im Fall der Bischofskongregation um geheim zu haltende Personalangelegenheiten geht, war man mit vermindertem Personalbestand tätig. Jetzt ist inzwischen weitgehend wieder Normalität eingekehrt, zumindest was die Arbeit der italienischen und vor Ort tätigen Mitarbeiter betrifft. Der Papst selbst ist wegen seines Alters und seiner Gebrechlichkeit in strenger Abschirmung im Palazzo Santa Marta; viele der Bischöfe und Kardinäle im höheren Alter waren ebenfalls in ihren Wohnungen geblieben, um sich nicht unnötig zu gefährden.
AK: In Deutschland, Italien und den anderen Staaten beginnen die Regierungen nach Wochen des Lockdowns damit, das öffentliche Leben vorsichtig wieder hochzufahren. Gibt es solche Überlegungen auch im Vatikan? Wann wirst Du selbst wieder ins Dikasterium nach Rom zurückkehren können.
PS: Seit Montag 4. Mai wird auch in den vatikanischen Behörden der normale Arbeitsalltag wieder aufgenommen, allerdings sind Petersplatz und die Petersbasilika noch nur beschränkt zugänglich; die Vatikanischen Museen werden wohl Ende Mai wieder unter strengen Sicherheitsvorkehrungen geöffnet werden, was im Blick auf ihre wichtige finanzielle systemrelevante Bedeutung für die fragilen vatikanischen Einnahmequellen nicht ganz unwichtig ist. Denn der Vatikan wie auch der Hl. Stuhl verfügt ja bekanntlich nicht über eigene Steuereinnahmen, sondern finanziert sich gänzlich aus Spenden und eben den nicht unerheblichen Einnahmen aus den Eintrittsgeldern der Vatikanischen Museen.
AK: In Deinem Aufsatz setzt Du Dich mit den medizinethischen Fragen der Triage auseinander. In Deutschland ist es glücklicherweise bislang nicht zu einer Überforderung des Gesundheitssystems und der Notwendigkeit von Triage gekommen. Uns beschäftigen im Augenblick stärker die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns. Wie sind nach Deiner Ansicht Gesundheitsinteressen und wirtschaftliche Interessen in der Pandemie mittelfristig zu gewichten?
PS: Aus der Sicht des Staates geht es gerechterweise im Augenblick um das Überleben und die gleiche und gerechte Verteilung der Ressourcen im Gesundheitswesen; glücklicherweise waren wir dank eines stabilen dualen Gesundheitswesens (ambulante und stationäre Gesundheitsversorgung) und einer im europäischen und internationalen Vergleich sehr hohen Zahl an Intensivbetten und Beatmungsplätzen nie in der Notwendigkeit, Triage im intensivmedizinischen Bereich einsetzen zu müssen. Natürlich sind wirtschaftliche Interessen nicht nur im Auge zu behalten, sondern mit den medizinischen Gesundheitsinteressen zu kombinieren: Medizin finanziert sich eben durch wirtschaftliche Prosperität. Insofern ist die einfache Rede von einer Güterabwägung zwischen der Gesundheit einerseits und der Wirtschaft andererseits etwas unterkomplex und in die Irre führend, denn die Gesundheit kann bestmöglich garantiert werden, sofern die Finanzierung der öffentlichen wie auch privaten Gesundheitsausgaben gesichert ist, und das hängt natürlich ab von einer stabilen Wirtschaft und nicht zuletzt auch von stabilen Steuereinnahmen. Kurzfristig hat ohne Zweifel das pure Überleben immer den Vorrang, mittel- und langfristig braucht es aber eine Gratwanderung zwischen virologischer Vorsicht und ökonomischer Risikobereitschaft.
AK: Das Subsidiaritätsprinzip ist bekanntlich katholischen Ursprungs. In der Pandemie hat der Staat eine weitgehende Kontrolle über das öffentliche, gesellschaftliche und selbst das private Leben übernommen. Ist das alles akzeptabel, und wäre es insbesondere auch für eine längere Dauer akzeptabel unter Rücksicht auf den Subsidiaritätsgedanken?
PS: In der Bundesrepublik Deutschland, wie auch übrigens in Österreich und der Schweiz, wird das Prinzip der Subsidiarität bekanntlich in Form des Föderalismus durchdekliniert: Der Zentralstaat gibt die Rahmenbedingungen vor, die Durchführung und Ausgestaltung in den Details ist Ländersache, im Bildungsbereich sehr föderal und divers, im Gesundheitswesen weniger föderal und stärker zentralisiert. Im Unterschied zu traditionell sehr stark etatistisch und zentralisiert organisierten Staaten wie Frankreich und Italien, auch mit Abstrichen Spanien, sind wir mit diesem föderalen Subsidiarismus immer sehr gut gefahren, auch jetzt in der Corona-Krise. Das liegt wesentlich wohl an zwei Gründen: föderal und in kleinen Einheiten kann besser auf unterschiedliche Problemfelder und Problempunkte reagiert werden; außerdem stärkt der Föderalismus den Wettbewerb um die je bessere Lösung beim Auftauchen neuer Probleme, wie ein Blick auf den Wettlauf zwischen Bayern und NRW um das bessere Krisenmanagement deutlich zeigt. Insgesamt gilt: Es braucht einen starken, aber schlanken Staat ohne bürokratisierte Verwaltungsselbstbeschäftigungsverfettung, oder anders: Viele Köchen verderben zwar den Einheitsbrei, wenn es aber um individuelle Breieinheiten und Lösungen geht, sind viele Köche mit unterschiedlichen Perspektiven von Vorteil. Dann braucht es immer noch den Staat als Moderator und Koordinator, weniger als Kontrolleur. In Zeiten der Krise ist der Staat immer auch als Kontrollinstanz gefordert, nach der Krise muss das überprüft und gegebenenfalls wieder auf ein notwendiges Minimalmaß zurückgestutzt werden.